
Sally-Ann Wherry, Nikki Buck (deutschsprachige Ausgabe von Stefan Schmidt)
Komplexe Pflegesituationen
Komplexizität in der Pflege erkennen, verstehen und managen
Hogrefe Verlag, 1. Auflage, Bern 2025, 328 Seiten, 45,00 €, ISBN 9783456863016
Pflegefachpersonen stehen zunehmend vor der Herausforderung, komplexe Pflegesituationen differenziert zu erkennen, angemessen zu bewerten und zielgerichtet zu gestalten. Das Buch „Komplexe Pflegesituationen“ von Wherry und Buck, in deutscher Herausgeberschaft von Stefan Schmidt, bietet hierfür einen fundierten theoretischen und praxisorientierten Rahmen. Die Publikation thematisiert die Bedeutung pflegerischer Expertise im Umgang mit Komplexität und entwickelt Strategien, um pflegerisches Handeln professionell und kontextbezogen zu stärken.
Zentrales Anliegen des Buches ist es, Pflege als eigenständige, hochqualifizierte Profession sichtbar zu machen. In einem Gesundheitssystem, das vielfach von sektoralen Grenzen und medizinisch dominierten Perspektiven geprägt ist, gelingt es den Autorinnen, die Rolle der Pflege differenziert herauszuarbeiten. Komplexe Pflegesituationen werden dabei nicht ausschließlich aus pathophysiologischer Sicht beleuchtet, sondern als interdisziplinär eingebettete, sozial, ökonomisch und psychologisch geprägte Konstellationen verstanden.
Die internationale Perspektive des Buches erweitert den fachlichen Diskurs. Die Herausgeberinnen verorten ihre Argumentationen im britischen Kontext, ohne dabei die Übertragbarkeit auf andere Gesundheitssysteme aus dem Blick zu verlieren. Schmidt gelingt es überzeugend, diese Perspektiven in die deutsche Versorgungsrealität einzuordnen. Dadurch wird deutlich: Viele Herausforderungen – wie die Fragmentierung von Versorgung, die begrenzte Patientenpartizipation oder der eingeschränkte Handlungsspielraum professioneller Pflege – sind transnationaler Natur. Das Buch plädiert implizit für eine systemische und professionsübergreifende Weiterentwicklung der Pflegepraxis.
Didaktisch zeichnet sich das Werk durch eine durchdachte Struktur aus. Reflexionsfragen, die immer wieder beim Lesen der Kapitel eingebettet werden, fördern die Auseinandersetzung mit Inhalten und regen zur selbstgesteuerten Vertiefung an. Diese Konzeption macht das Buch besonders für Pflegestudierende und Lehrende interessant. Der Anhang mit kurzen Antwortimpulsen dient der Orientierung, ohne den Anspruch individueller Auseinandersetzung zu unterlaufen. Das differenzierte Inhaltsverzeichnis erleichtert die gezielte Nutzung im Alltag, etwa beim Einsatz in Lehre oder Praxisprojekten. Gerade die Detailliertheit im Aufbau ermöglicht es, bei erneutem Lesen gezielt an bereits Gelerntes anzuknüpfen.
Inhaltlich bietet das Buch eine facettenreiche Betrachtung pflegerischer Komplexität. Dabei werden sowohl klassische Versorgungssettings als auch bislang weniger beachtete Kontexte – etwa Lernbehinderungen, Hochsensibilität oder psychiatrische Pflege – einbezogen. Die Darstellung bleibt dabei konsequent handlungsorientiert: Modelle wie Concept Mapping, Syndrom-Pflegediagnosen oder Case- und Care-Management werden so aufbereitet, dass ihre Anwendung nachvollziehbar und anschlussfähig für den Berufsalltag ist.
Ein besonderer Vorzug des Buches liegt in seiner konsequent pflegefachlichen Perspektive. Die Autorinnen und Autoren verfügen über ausgewiesene Expertise in Theorie und Praxis. Das wird nicht nur durch die Inhalte deutlich, sondern auch durch die Art der Darstellung: Die hohe Kompetenz des Pflegepersonals wird betont, ohne dabei andere Professionen abzuwerten. Vielmehr wird für ein interprofessionelles Miteinander auf Augenhöhe plädiert, das auf gegenseitigem Respekt und professioneller Klarheit basiert.
Trotz seines theoretischen Anspruchs bleibt das Buch praxisnah, wenn auch anspruchsvoll geschrieben. Die Theorie wird nicht zum Selbstzweck, sondern bildet die Grundlage für reflektiertes pflegerisches Handeln. Besonders hervorzuheben ist die respektvolle und zugleich konsequente Betonung pflegerischer Fachlichkeit. Die Darstellung erfolgt ohne Abgrenzung gegenüber anderen Berufsgruppen, aber mit einem klaren Fokus auf die eigenständige Kompetenz und Verantwortung professioneller Pflege.
Für die Unterrichtsentwicklung in Gesundheitsberufen bietet das Buch zahlreiche Anregungen. Die dargestellten Konzepte und Modelle lassen sich in Fallarbeit, Diskussionen zu Rollenverständnissen oder bei der Entwicklung pflegerischer Planungsprozesse unmittelbar einsetzen. Lehrende erhalten damit nicht nur fundierte Inhalte, sondern auch methodische Impulse für eine kompetenzorientierte Didaktik. Darüber hinaus fördern die Reflexionsfragen eine vertiefte Auseinandersetzung mit beruflichen Handlungssituationen – auch jenseits des konkreten Textbezugs.
Einzelne Inhalte mögen für Leser*innen mit vorwiegend deutscher Praxiserfahrung zunächst ungewohnt erscheinen. Diese Irritation ist jedoch produktiv: Sie eröffnet Perspektiven für eine pflegepolitische und fachliche Weiterentwicklung, die über bestehende Strukturen hinausweist. In diesem Sinne ist das Buch nicht nur Fachliteratur, sondern auch ein Impulsgeber für die Weiterentwicklung des Berufsbildes. Es zeigt exemplarisch, wohin sich Pflege entwickeln kann – und muss –, wenn sie den Herausforderungen moderner Gesundheitsversorgung gerecht werden will.
Fazit
„Komplexe Pflegesituationen“ ist ein wissenschaftlich fundiertes, didaktisch durchdachtes und inhaltlich breit aufgestelltes Fachbuch. Es leistet einen wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Pflege und unterstützt Pflegende, Lehrende und Studierende dabei, komplexe Versorgungsrealitäten reflektiert und kompetent zu gestalten. Die Verbindung von Theorie, Praxisnähe und internationalem Weitblick macht das Buch zu einer wertvollen Ressource – nicht nur für den pflegewissenschaftlichen Diskurs, sondern auch für die konkrete Weiterentwicklung professionellen Handelns in Ausbildung und Praxis.
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