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Christoph Held

Was ist „gute“ Demenzpflege?
Verändertes Selbsterleben bei Demenz – Ein Praxisbuch für Pflegende

Hogrefe Verlag, Bern, 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2025, 152 Seiten, 28,00 €, ISBN 978-3-45-686249-1

Der Titel zeigt es schon: Hier hat jemand ein Buch geschrieben, der an Demenz erkrankte Menschen und ihr Erleben in den Vordergrund rückt. Der den Menschen und sein Erleben ernst und wahrnimmt und beschreibt, wo die Krankheit die Wahrnehmung und das Verhalten ändert und prägt und wie dies auf das Umfeld wirkt. Der Autor ist ein Mensch, der die Herausforderung Demenz ganz sicher nicht nur theoretisch kennt: Christoph Held, Facharzt Psychiatrie FMH. Er arbeitete 25 Jahre als geriatrischer Arzt und Alterspsychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich und hat bereits mehrere Bücher zum Thema Demenz veröffentlicht. Letztendlich ist das vorliegende Buch ein interprofessionelles Buch zum Thema Demenz, was es, soviel sei vorausgeschickt, zurecht als Praxishandbuch auszeichnet. Die Coautoren sind erfahrene Fachpersonen aus dem Bereich Medizin und Pflege.

Das Buch richtet sich vor allem an Pflegende und Angehörige von erkrankten Menschen mit mittelschwerer und schwerer Demenz, ist aber auch für die Ausbildung, Fort- und Weiterbildung von allen Menschen in Gesundheitsberufen, inkl. Sozialdiensten, wichtig und geeignet.

Was die Neuauflage auszeichnet, ist, dass aktuelle Behandlungsansätze bewährte Grundlagenvermittlung und Erfahrungen im Umgang mit dem Thema, Erleben bei Demenz, ergänzen. Auch wird in dieser dritten Auflage auf die bedeutsam erweiterten neuen Erkenntnisse über Diagnostikmöglichkeiten und Prävention der Alzheimer Erkrankung hingewiesen. Der Autor erhielt für sein Buch „Das demenzgerechte Heim“, zusammen mit Doris Ermini-Fünfschilling, den schweizerischen Alzheimerpreis.

Im Zusammenhang von der Pflege von Menschen mit fortgeschrittener Demenz wird oft von Stress und Überforderung und fehlender Lebensqualität geredet. Der Autor und seine Co-Autoren kennen eine wirksame Entgegnung: Menschen mit Demenz und ihrer geänderten Ich-Wahrnehmung ist mit Klarheit und Zuwendung zu begegnen. Wir, als Pflege- und Betreuungspersonen, An- und Zugehörige dürfen uns neben der Wahrnehmung des Gegenübers auch mit unserem eigenem Wahrnehmen beschäftigen. Wir können unser Selbsterleben noch kontrollieren und einen Abgleich zwischen Denken, Erfahrung und Handeln darstellen, was von Demenz betroffenen Menschen so nicht mehr gelingt. Dies stellt das Buch gut verstehbar dar und hilft uns, das oft paradoxe Handeln von Menschen mit Demenz besser zu deuten und zu verstehen. Dies führt wiederum zu Stressreduktion und besser gelingender Beziehungsarbeit, die ganz eindeutig zu mehr positivem Selbsterleben der Betroffenen, aber auch ihrer Bezugspersonen führt. 

„Alles Leben ist Begegnung.“ Dieser bekannte Spruch von Martin Buber, kam mir als Rezensentin bei dem Lesen dieses Buches in den Sinn: Begegnungen mit dem Selbst und dem Anderen zu ermöglichen, als Chance für Lebenszufriedenheit und sinnstiftendes Tun und so die Lebensqualität zu verbessern und auch die Lebens- und Arbeitszufriedenheit auf Seiten der helfenden Personen. Wenn, wie Herr Dr. Held beschreibt, der Mensch mit Demenz oft keine Entscheidungen zu sich selbst mehr treffen kann, ist es entscheidend, dass das Umfeld, dies weiß, um Überforderungen zu vermeiden und dem Betroffenen zu helfen. Indem Bedürfnisse erraten, gedeutet und möglichst erfüllt werden. Sehr inspirierend war hier die Aussage in Kapitel 1.5: „Jeder demenzbetroffene Mensch erlebt seine veränderte Wahrnehmung und fragmentierte Erinnerung nämlich unterschiedlich und verknüpft seine oftmals zerrissenen Gedanken immer wieder neu.“ Hier ist die Herausforderung an die Begleitpersonen „wahre Künstler einer hilfreichen, aber diskreten Unterstützung zu sein.“ 

Dies kann ich, aus meiner eigenen jahrzehntelangen Erfahrung in der Begleitung und Unterstützung von Menschen mit Demenz, nur bestätigen: Wenn es uns gelingt eine Beziehungsebene zu erreichen, die Vertrauen ermöglicht, ist die Begegnung und der gemeinsame Weg deutlich entspannter umsetzbarer, als wenn feste Muster, Vorgaben oder gar Beschränkungen den Umgang dominieren.

Hier spricht der Autor davon, dass es besser ist „den Filmriss (hiermit ist das dissoziative Erleben gemeint) zu akzeptieren, ohne ihn ständig zusammenkleben zu wollen.“ (Kapitel 1.6)

Verändertes Selbsterleben (Angst, Wahn, Halluzinationen, Unruhe) auf der Seite des Menschen mit Demenz benötigt Zuwendung, Begleitung, Schutz und Geborgenheit als Hilfe von der begleitenden Person. Dies ist Arbeit und Aufgabe zugleich für beide Seiten – der Autor schreibt vom mitunter schwierigen Zusammenleben von Bewohnern und Mitarbeitern oder/und pflegenden Angehörigen.

Das Grundrecht auf Gefühle betrifft hier alle Betroffenen und das Ziel „guter“ Demenzpflege ist die Sicherstellung von guter Lebensqualität, auch durch die Abnahme von Stress und Überforderung.

Tröstlich ist, dass Dr. Held schildert: „Wir erleben unsere Demenzstationen, aber auch täglich als Orte der Entschleunigung, der Ruhe, der Geborgenheit, der heiteren Geselligkeit und der gegenseitigen Anerkennung.“

Das kenne ich tatsächlich auch so, aus verschiedenen Arbeitskontexten in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: Wo die Beziehungsebene funktioniert, sich Menschen begegnen können, in einem vertrauensvollem Miteinander, wo die richtigen Worte und Gesten immer wieder gesucht und gefunden werden, wo jeder Moment neu sein darf und neu interpretiert werden kann, im Bewusstsein einer verlässlichen, respektvollen Herangehensweise, umsichtig, in Gewissheit, dass der Mensch mit Demenz sein eigenes Erleben hat, aber die Fürsorge und Rückkopplung seines Umfelds braucht bei fortgeschrittenen Problemen, Alltagsanforderungen zu bewältigen – da ist nicht alles einfach, aber vieles möglich und das zählt. Dass der Mensch, dem Menschen ein Mensch ist, ein Du, dass die andere Person sieht, in ihrem Selbsterleben, wie es nun gerade ist.

Kapitel 3 widmet sich der Neuropathologie und Diagnostik der Demenz, wobei hervorgehoben wird, dass Demenz kein einheitliches Krankheitsbild ist. Wichtig ist, dass in diesem Kapitel darauf hingewiesen wird, dass es auch für Pflegefachkräfte wichtig ist, die verschiedenen Demenzformen zu kennen, um in der Risikoerfassung und der Planung der Pflege und Betreuung auf die spezifischen Symptome einer bestimmten Demenzerkrankung eingehen zu können.

Kapitel 4 hilft, den Begriff des Selbst- Erlebens zu verstehen, mehr über Ich-Identität, deren Bedeutung und „Ich-Störungen“ zu erfahren. Wichtig: Hier werden konkrete Alltagstipps zum Umgang gegeben, so dass das Verstehen der „Störung“ sich auch in der praktischen Begleitung darstellen lässt.

Dies wird in Kapitel 5-13 weiter konkretisiert zu den Themen Waschen und Ankleiden, Kommunikation, Essen und Trinken, Ausscheidung, Sich-Bewegen, alltäglichen Ritualen im Zusammenhang mit Selbsterleben, herausforderndem und schwierigem Verhalten, Sterben, Angehörigengesprächen und Lebensraumgestaltung.

Ein Ausblick in die Zukunft ist der Abschluss der dritten Ausgabe dieses Praxishandbuches: „Dennoch wird bei demenzkranken Menschen eine simulierte Präsenz oder gar Scheinwelt niemals die menschlich-pflegerische Zuwendung ersetzen können, die auf die existenziellen Schwierigkeiten und Nöte der Betroffenen flexibel und empathisch reagieren kann.“

Fazit

Dieses Buch gehört dick gedruckt in die Zukunftsplanung unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Es setzt ein Zeichen für die Bedeutung und den Rahmen institutioneller Pflege und Betreuung von an Demenz erkrankten Menschen. Dieses Buch bezieht Angehörige und das Thema Abschied und Sterben mit ein und lässt Diskussionen zu. Es gibt nicht nur einen Weg. Es ist wichtig im multiprofessionellen Team zu sehen, an welchem Punkt der Erkrankung der Mensch mit Demenz steht und was dies mit seinem (Selbst-)Erleben macht. Ebenso wie das Umfeld ihn hierbei begleiten und unterstützen kann.

Unsicherheit, Stress, Selbstzweifel, Dissoziation, Angst und unter Umständen Abwehr und Anspannung können die Begleitung und Betreuung, ja das Miteinander, zu einer Herausforderung machen, was in diesem Buch durchaus benannt wird.

Lebensqualität zu schaffen, bis zuletzt, ist eine Aufgabe der betreuenden Teams. Dies braucht entsprechendes Wissen und ein Milieu, dass die Haltung fördert, dass „gute“ Demenzpflege, Wissen und Zeit braucht, das Selbsterleben des Menschen mit Demenz zu erkennen und in Ruhe zu begleiten. Dann wird die beschriebene mögliche Herausforderung für beide Seiten machbar und sinnstiftend.

Lebensfreude trotz(t) Demenz.

Ein sehr gelungenes, gut lesbares Praxisbuch – nicht nur für Pflegende – liegt nun in seiner dritten Auflage vor!

Eine Rezension von Renate Zeisberger
Pflegefachperson, Palliativ and Geriatric nurse, Pflegedienstleitung und Praxisanleitung, aktuell Qualitätsmanagement stationäre Langzeitpflege

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