
Birgit Panke-Kochinke
Gewalt gegen Pflegekräfte
Problematische Situationen erkennen und lösen
Mabuse-Verlag, Frankfurt am Main, 5., überarbeitete Auflage 2025, 112 Seiten, 24,90 €, ISBN 978-3-938304-81-5
Einleitung
Gewalt gegen professionelle Pflegefachkräfte stellt eine der meistverdrängten Herausforderungen im Gesundheitswesen dar – ein strukturelles Phänomen, das selten systematisch aufgearbeitet wird, obwohl es Arbeitszufriedenheit, Gesundheit und Qualität der Versorgung nachhaltig beeinflusst. Das vorliegende Werk von PD Dr. Birgit Panke-Kochinke, erschienen in fünfter, überarbeiteter Auflage im Mabuse-Verlag, widmet sich dieser komplexen Problematik mit analytischer Schärfe und hohem Praxisbezug.
Frau Panke-Kochinke ist promovierte Historikerin, habilitierte Soziologin und ausgebildete Gymnasiallehrerin. Ihre langjährige Tätigkeit als Dozentin in den Bereichen Pflegewissenschaft und Genderforschung sowie ihre Projektarbeit im Bereich der Pflege- und Demenzforschung – unter anderem am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Witten – verleihen dem Werk eine ausgeprägt interdisziplinäre Perspektive. Neben der universitären Lehre hat sie Pflegeschulen über Jahre hinweg in der Schulentwicklung begleitet und Fortbildungsformate für den Umgang mit Menschen mit Demenz entwickelt.
Die vorliegende Publikation ist im Kontext langjähriger Forschung und Beratungsarbeit entstanden. Sie verbindet pflegewissenschaftliche Fragestellungen mit soziologischer Theorie, qualitativer Forschung und systemisch-interventionistischen Ansätzen. Damit richtet sich das Buch nicht nur an Pflegende selbst, sondern auch an Leitungspersonen, pädagogische Fachpersonen und Organisationen, die mit Gewaltphänomenen in Pflegeeinrichtungen konfrontiert sind.
Aufbau und Inhalt
Das Buch „Gewalt gegen Pflegekräfte – Problematische Situationen erkennen und lösen“ gliedert sich in sieben inhaltliche Hauptkapitel und umfasst ergänzend ausgewählte Sekundärliteratur, Methodenhinweise sowie schematische Darstellungen. Bereits die Struktur verdeutlicht die Absicht der Autorin, Gewalt nicht nur als individuelles Problem, sondern als mehrdimensionales und systemisch eingebettetes Phänomen zu analysieren.
Nach einer einführenden Problemstellung und thematischen Rahmung widmet sich das zweite Kapitel den empirischen Grundlagen des Buches. Diese beruhen auf qualitativen Untersuchungen, in denen Pflegefachkräfte in verschiedenen Settings (u. a. Akutpflege, stationäre Altenhilfe) ihre Erfahrungen mit problematischen Situationen schildern. Die Autorin legt ein besonderes Augenmerk auf narrative Aspekte, subjektive Bedeutungszuschreibungen sowie strukturelle Bedingungen im Arbeitskontext. In den folgenden Kapiteln entwickelt Frau Panke-Kochinke auf dieser Grundlage eine theoretisch reflektierte Arbeitsdefinition von Gewalt. Dabei werden Konzepte wie „Angst und Gewalt“, das „immanente Gewaltverständnis im Pflegealltag“ sowie organisationale und sprachlich-kulturelle Rahmungen thematisiert. Die Autorin nutzt hierfür sowohl pflegewissenschaftliche als auch soziologisch-theoretische Ansätze. Ein zentrales Analyseinstrument stellt die von ihr entwickelte „Analysematrix“ dar. Mit ihr werden typische Konfliktmuster und strukturelle Einflussgrößen systematisiert. Das „Strukturgitter“ wiederum differenziert Perspektiven von Pflegefachkräften und Leitungspersonen und verdeutlicht deren jeweilige Handlungslogiken und Deutungsmuster.
Der abschließende Teil des Buches widmet sich der Konzeption einer „rekonstruktiven Systemintervention“. Diese soll es ermöglichen, institutionell verfestigte Gewaltkonstellationen kritisch zu reflektieren und gemeinsam mit den Beteiligten lösungsorientierte Veränderungsprozesse zu initiieren. Methodisch verknüpft Frau Panke-Kochinke dabei systemanalytische Instrumente mit Elementen aus Supervision, Organisationsentwicklung und partizipativer Forschung. Das Buch schließt mit ausgewählter Fachliteratur, einem Methodenanhang sowie einer Vielzahl grafischer Schemata, die zentrale Begriffe, Prozesse und Zusammenhänge visuell strukturieren.
Diskussion
Das Buch zeichnet sich durch eine methodisch klare, systematisch aufgebaute und interdisziplinär informierte Herangehensweise an ein in der Pflegepraxis hochrelevantes Thema aus. Besonders hervorzuheben ist der Verzicht auf moralisierende oder vereinfachende Deutungen von Gewalt – stattdessen wird Gewalt als relationales, situationsabhängiges und strukturell gerahmtes Phänomen begriffen. Die Autorin entwickelt damit eine analytische Tiefenschärfe, die in der bisherigen pflegewissenschaftlichen Literatur selten anzutreffen ist. Neu ist vor allem die Verbindung von empirischer Rekonstruktion mit handlungsorientierter Systemdiagnostik. Die „Analysematrix“ und das „Strukturgitter“ bieten den Lesenden nicht nur konzeptionelle Orientierung, sondern sind zugleich didaktisch aufbereitet, sodass sie sich für die Arbeit mit Teams, in Supervision oder in Fort- und Weiterbildung eignen. Auch der Abschnitt zur rekonstruktiven Systemintervention überzeugt durch Praxisnähe und theoretische Fundierung. Die Leser:innen werden nicht nur mit Problemlagen konfrontiert, sondern erhalten zugleich methodische Impulse zur Bearbeitung ebendieser.
Hervorzuheben ist zudem der Stil des Buches: Die Sprache ist durchweg gut strukturiert, an zentralen Stellen präzise und verständlich formuliert. Der Aufbau folgt einer nachvollziehbaren Argumentationslinie. Grafiken und Schemata sind funktional und unterstützen die Textlogik sinnvoll, wenngleich einige Begriffe eine stärkere Begriffsklärung verdient hätten – etwa die Unterscheidung zwischen „offener“ und „struktureller Gewalt“ (vgl. Kapitel 3.2 und 3.4).
Weniger überzeugend sind vereinzelt die Abschnitte zur praktischen Umsetzung: Während die theoretische Fundierung der Interventionsansätze solide ist, bleiben konkrete Hinweise zur Umsetzung im institutionellen Alltag stellenweise vage. Es wäre hilfreich gewesen, strukturelle Implementierungsunterstützungen, exemplarische Fallverläufe oder Rückmeldungen aus bereits durchgeführten Interventionen aufzunehmen, um die Umsetzbarkeit der vorgestellten Modelle anschaulicher und praktikabler zu machen. Auch auf die rechtliche Einordnung von Gewalt wird kaum eingegangen.
Trotz dieser kleineren Einschränkungen bietet das Buch einen bemerkenswert reflektierten Zugang zum Thema Gewalt in der Pflege – und liefert dabei keine isolierten Handlungsempfehlungen, sondern ein strukturelles Denkangebot. Gerade dieser Anspruch macht es zu einer wertvollen Ressource in Aus-, Fort- und Weiterbildung, Organisationsentwicklung sowie im pflegepädagogischen Diskurs.
Fazit
„Gewalt gegen Pflegekräfte – Problematische Situationen erkennen und lösen“ ist ein durchdachtes und theoretisch fundiertes Fachbuch, das einen lange vernachlässigten Aspekt der pflegerischen Berufsrealität differenziert und systematisch beleuchtet. Die Autorin liefert keine einfachen Antworten, sondern eröffnet Zugänge zur Reflexion, Diagnose und Intervention – unter Berücksichtigung der Perspektiven aller beteiligten Akteure.
Das Werk eignet sich besonders für Fachpersonen, die sich mit Fragen der Gewaltprävention, Teamsteuerung, Supervision oder Schulentwicklung befassen. Auch in der hochschulischen Lehre, Pflegepädagogik und Leitungskräftefortbildung kann das Buch als Impulsgeber für Diskussion und Analyse dienen.
Trotz kleinerer Abstriche im Bereich konkreter Umsetzungsbeispiele bleibt der Gesamteindruck ausgesprochen positiv: Wer bereit ist, sich mit den tieferliegenden Ursachen von Gewalt in der Pflege auseinanderzusetzen, findet hier ein differenziertes, professionell aufbereitetes und fachlich anspruchsvolles Werk – mit hoher Relevanz für Gegenwart und Zukunft pflegerischer Praxis.
Eine Rezension von Fabian Büker
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