
Manfred Baumann
Sterben und Tod in der Palliativ- und Intensivpflege
Woran Fachkräfte ihr Handeln orientieren
Mabuse-Verlag Verlag, Frankfurt am Main 2025, 452 Seiten, 57,00 €, ISBN 9783863217365
Baumann, als Praktiker und Theoretiker im Bereich der Gesundheits- und Pflegewissenschaften, hat sich in dieser Publikation der schwierigen Thematik des Sterbens und der damit verbundenen Belastungen gewidmet. Dabei verfolgt er die Zielsetzung, die subjektiven Perspektiven von Pflegekräften zu ergründen, die im Kontext der Intensivpflege und Palliativpflege mit Sterbenden und deren Familien arbeiten. Die zentrale Fragestellung ist, wie Pflegekräfte mit den emotionalen und ethischen Herausforderungen umgehen und welche professionellen Ressourcen sie zur Bewältigung dieser Herausforderungen benötigen. Der Umgang mit Tod und Sterben ist eine der herausforderndsten und ethisch tiefgreifendsten Aufgaben in der Pflegepraxis. Besonders in der Intensivpflege und Palliative Care werden Pflegepersonen immer wieder mit existenziellen Fragestellungen konfrontiert: Wie können wir Sterbende angemessen begleiten? Wie viel Nähe ist zu viel Nähe? Welche Verantwortung tragen wir gegenüber den Angehörigen? Und nicht zuletzt: Wie gehen wir mit den eigenen Emotionen in einem solch belastenden Kontext um? Manfred Baumann widmet sich diesen Fragen in seiner Publikation „Sterben und Tod in der Palliativ- und Intensivpflege“, indem er die Erfahrungswelt von Pflegepersonen im Umgang mit extrem belastenden Situationen in der Pflegearbeit unter die Lupe nimmt.
Das Buch erscheint in einer Zeit, in der Fragen rund um Sterben, Tod und würdige Begleitung zunehmend in den Fokus gesellschaftlicher Aufmerksamkeit rücken. Die demografische Entwicklung, die steigende Zahl chronisch erkrankter und hochbetagter Menschen sowie der medizinisch-technische Fortschritt stellen unser Gesundheitssystem vor grundlegende ethische und strukturelle Herausforderungen. Insbesondere Pflegefachpersonen in der Intensiv- und Palliativversorgung stehen dabei in einem Spannungsfeld: Einerseits sind sie eingebunden in Prozesse der Effizienzsteigerung und Technisierung, andererseits tragen sie die Verantwortung, den individuellen, menschlichen Aspekt der Begleitung am Lebensende zu wahren.
In diesem Kontext liefert Baumanns Untersuchung einen bedeutsamen Beitrag: Sie richtet den Fokus auf die Perspektiven jener Berufsgruppe, die Sterbeprozesse nicht nur beobachtet oder begleitet, sondern diese tagtäglich aktiv mitgestaltet. Damit rückt er Erfahrungen und Deutungsmuster von Pflegekräften ins Zentrum – eine Sichtweise, die in der gesundheitspolitischen wie auch wissenschaftlichen Diskussion häufig unterrepräsentiert ist. Die Publikation nimmt damit ein hochaktuelles und berufsrelevantes Thema auf, das sowohl für die Profession Pflege als auch für Bildungskontexte von wachsender Bedeutung ist.
Im Zentrum der Untersuchung stehen 20 leitfadengestützte biografisch-narrative Interviews mit erfahrenen Pflegefachpersonen aus der Intensiv- und Palliativpflege. Baumann wählt bewusst einen qualitativ-interpretativen Zugang und nutzt die dokumentarische Methode nach Bohnsack, die eine systematische Analyse der impliziten Orientierungen und Deutungsmuster der Interviewten erlaubt. Damit gelingt es ihm nicht nur, explizit Gesagtes, sondern auch habitualisierte Denk- und Handlungsmuster sichtbar zu machen. Diese methodische Fundierung verleiht den Ergebnissen eine hohe Validität innerhalb des qualitativen Forschungsparadigmas. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass der Autor seine methodologischen Entscheidungen transparent begründet und kritisch reflektiert – ein Aspekt, der das Buch auch für anspruchsvolle Lesende mit forschungsmethodischem Interesse wertvoll macht.
Die Auswertung der Interviews bringt eine Vielzahl an Orientierungen zum Vorschein, die Pflegekräfte im Umgang mit Sterben und Tod leiten. Baumann strukturiert diese Orientierungen entlang zweier zentraler Erfahrungspole: zum einen das „Erschreckende“, zum anderen das „Schöne“. Unter dem Erschreckenden fasst er Erfahrungen zusammen, die durch plötzliche Todesfälle, entgrenzte Situationen, persönliche Überforderung oder ethisch fragwürdige Entscheidungen geprägt sind. Hierzu zählen etwa invasive Maßnahmen am Lebensende oder Kommunikationsabbrüche mit Angehörigen. Demgegenüber stehen Erfahrungen des „Schönen“ – Momente gelingender Abschiede, authentischer Nähe und stiller, würdevoller Begleitung. Diese Spannung verdeutlicht, wie ambivalent das Erleben von Sterbeprozessen für Pflegekräfte ist – zwischen professioneller Distanz, moralischem Anspruch und emotionaler Betroffenheit. Besonders eindrucksvoll ist dabei, wie Baumann aufzeigt, dass sich diese Orientierungen nicht linear zuordnen lassen, sondern häufig ineinandergreifen und situationsabhängig wechseln.
Baumann diskutiert seine Ergebnisse nicht nur als individuelle Erfahrungsberichte, sondern als Ausdruck kollektiver beruflicher Orientierungsmuster. Er interpretiert diese Orientierungen als strukturgebend für das berufliche Selbstverständnis in der Intensiv- und Palliativpflege. Dabei betont er, dass die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben keine „Privatsache“ der Pflegenden ist, sondern ein professioneller Lern- und Entwicklungsprozess, der institutionell unterstützt werden muss. Die Orientierungen fungieren in seiner Argumentation als „Kompass“ im moralisch aufgeladenen Pflegealltag: Sie ermöglichen nicht nur Handlungsfähigkeit, sondern sind auch Ausgangspunkt für Reflexion und Professionalisierung.
Die Kapitel sind miteinander verwoben und folgen einem narrativen Stil, der sowohl theoretische Grundlagen als auch empirische Fallbeispiele integriert. Der Autor führt die Lesenden durch die verschiedenen Aspekte der Pflege in extrem belastenden Situationen: Von der Wahrnehmung von Lebensqualität und Würde bis hin zu der Frage, wie man als Pflegekraft die eigenen emotionalen Belastungen managen kann.
Baumann gelingt es, aus der Perspektive der Pflegekräfte heraus zu schildern, wie herausfordernd und komplex dieser Umgang sein kann. In vielen Passagen hebt er den emotionalen, moralischen und auch physischen Druck hervor, dem Pflegende ausgesetzt sind. Das Buch vermittelt eindrucksvoll, wie diese Belastungen das professionelle Handeln beeinflussen und welche ethischen Entscheidungen dabei getroffen werden müssen.
Ein weiteres zentrales Element des Buches ist die Reflexion über die institutionellen Rahmenbedingungen, die den Umgang mit Tod und Sterben beeinflussen. Hier setzt Baumann insbesondere bei der Notwendigkeit an, dass Pflegekräfte in diesen Bereichen speziell ausgebildet und kontinuierlich weiterqualifiziert werden müssen, um professionell auf die damit verbundenen Herausforderungen reagieren zu können.
Unstrittig ist Baumanns Ausblick auf die Weiterentwicklungs- und Lernpotenziale, die sich aus den geschilderten Erfahrungen ergeben. Zwar liegt der Fokus seiner Studie auf emotional belastenden Situationen, doch versteht er diese nicht bloß als Krisenerfahrungen, sondern als Ausgangspunkte für berufliches Wachstum. Die Auseinandersetzung mit moralischen Konflikten, mit Ambivalenzen im Umgang mit Sterbenden oder mit Gefühlen von Ohnmacht wird als Motor für Reflexion und Haltungsentwicklung beschrieben – ein Zugang, der im Kontext professioneller Qualifizierung hohe Relevanz besitzt.
Gerade aus bildungsbezogener Perspektive eröffnet sich hier ein vielschichtiger didaktischer Zugang: Die von Baumann herausgearbeiteten Orientierungen eignen sich hervorragend als Impulse für Weiterbildungsformate, etwa zur ethischen Entscheidungsfindung, zur kommunikativen Kompetenz oder zur Selbstsorge im Umgang mit existenziellen Belastungen. Das Buch bietet damit substanzreiche Anknüpfungspunkte für Curricula im Bereich der spezialisierten Palliative Care und der Intensivpflege – insbesondere, um Lernprozesse in sensiblen, emotional hoch aufgeladenen Themenfeldern anzustoßen.
Dabei geht Baumann über rein beschreibende Fallvignetten hinaus: Er plädiert für eine systematische Auseinandersetzung mit den Herausforderungen am Lebensende und betont die Notwendigkeit eines professionellen Orientierungswissens, das nicht allein durch Routinen oder technische Fertigkeiten vermittelt werden kann. Vielmehr wird sichtbar, wie essenziell reflektierte Erfahrung, kollegialer Austausch und ethische Klärung für ein tragfähiges pflegerisches Handeln sind.
Besonders bemerkenswert ist, wie Baumanns Arbeit zur Selbstreflexion anregt: Die eindringlichen Perspektiven werfen grundlegende Fragen auf – nicht nur zur Praxis, sondern auch zur Haltung. Wie gelingt empathisches Handeln unter Druck? Wo liegen die Grenzen professioneller Nähe? Wie kann Würde gewahrt werden, wenn Handlungsspielräume begrenzt sind? Solche Fragen lassen sich im Rahmen von Weiterbildungsmodulen nicht nur analytisch, sondern auch erfahrungsbasiert bearbeiten – etwa durch Fallbesprechungen, ethische Fallarbeit oder biografisch-reflexive Elemente.
Damit positioniert sich das Buch als ein wertvoller Impulsgeber für die didaktische Gestaltung anspruchsvoller Bildungsprozesse. Es unterstützt die Entwicklung einer Haltung, die Sterbebegleitung nicht als bloße Funktion innerhalb eines Systems begreift, sondern als Kern professioneller Pflege. Die dargestellten Erfahrungen machen eindrucksvoll deutlich: Die Begleitung von Sterbenden ist keine selbstverständliche Kompetenz, sondern erfordert kontinuierliche Auseinandersetzung – mit sich selbst, mit anderen und mit den strukturellen Bedingungen des pflegerischen Handelns.
Manfred Baumann legt mit „Sterben und Tod in der Palliativ- und Intensivpflege“ eine inhaltlich dichte, sprachlich anspruchsvolle und in weiten Teilen beklemmend ehrliche Untersuchung vor. Die Stärke des Buches liegt unbestritten in der ungeschönten Sicht auf die Erfahrungsrealität von Pflegenden im Umgang mit Tod, Schmerz und Grenzsituationen. Aus Sicht der beruflichen Weiterbildung in Gesundheitsberufen bietet das Werk besonders im Hinblick auf ethische Fallbesprechungen und professionsbezogene Reflexionen wertvolle Impulse.
Es fällt auf, dass der Schwerpunkt der Darstellung deutlich auf belastenden, negativ konnotierten Erfahrungen liegt, während positive Bewältigungsstrategien sowie alternative, systematisch erhobene Perspektiven weitgehend unberücksichtigt bleiben. Für die Gestaltung professioneller Lernprozesse in der Weiterbildung wäre eine differenziertere und ausgewogenere Darstellung hilfreich gewesen, um ein realistischeres Spektrum pflegerischer Praxis im Umgang mit Sterben und Tod abzubilden. Gleichwohl setzt Baumann einen relevanten bildungsbezogenen Impuls: Er verdeutlicht, dass der professionelle Umgang mit existenziellen Situationen nicht vorausgesetzt werden kann, sondern Gegenstand gezielter Auseinandersetzung und reflexiver Lernprozesse sein muss – und genau hier setzt sein Buch einen wichtigen Akzent.
Für Lehrpersonen und Weiterbildner:innen in der Palliativ- und Intensivpflege, für ethische Beratungen im Gesundheitswesen sowie für erfahrene Pflegefachpersonen, die sich mit ihrer Rolle und Verantwortung am Lebensende auseinandersetzen möchten, ist dieses Buch unbedingt lesenswert. Auch wenn es an manchen Stellen einseitig bleibt, eröffnet es Räume für das, was in der täglichen Praxis oft zu kurz kommt: das Nachdenken über das eigene Tun – und über das, was Pflege im Innersten ausmacht.
Eine Rezension von Romy Flotow,
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