
Birte Kimmerle
Kinderkrankenpflege in Frühen Hilfen
Zur Entstehung einer spezifischen Berufsausrichtung der Pflegefachberuf
Beltz Juventa, Weinheim Basel 2025, 310 Seiten, 48,00 €, ISBN 978-3-7799-8695-9
Das Buch „Kinderkrankenpflege in Frühen Hilfen – Zur Entstehung einer spezifischen Berufsausrichtung der Pflegefachberufe“ von Birte Kimmerle widmet sich einem bisher wenig beachteten, aber hochrelevanten Thema: der Entstehung und Etablierung der Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflege (FGKiKP) im Kontext der Frühen Hilfen. Diese spezifische Berufsausrichtung hat sich in den vergangenen Jahren als wichtiger Baustein in der Prävention von Kindeswohlgefährdung etabliert, indem sie Familien und Kleinkinder in psychosozial belastenden Lebenssituationen unterstützt.
Birte Kimmerle, Ph. D., ist Gesundheits- und Pflegewissenschaftlerin, Dipl. Pflegewirtin (FH) und Kinderkrankenschwester. Momentan ist sie stellvertretende Referatsleitung „Pflege und Alter“ beim Kommunalverband Jugend und Soziales Baden-Württemberg und war zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Tübingen. Ihre Interessenschwerpunkte umfassen familienorientierte Versorgungskonzepte, partizipative Versorgungsforschung, Praxisentwicklung und Professionalisierung der Pflegeberufe.
Es wurde unter dem Titel „Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflege in Frühen Hilfen: eine Arena-Analyse zur Entstehung einer spezifischen Berufsausrichtung der Pflegefachberufe“ 2024 die Dissertation von Birte Kimmerle zur Erlangung des Grades eines Philosophical Doctor (Ph. D.) an der Universität Witten/Herdecke, Fakultät für Gesundheit, Department für Pflegewissenschaft verfasst.
Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, die von einer theoretischen und forschungsbezogenen Grundlegung über die methodologische Verortung bis hin zur empirischen Analyse und Diskussion der Ergebnisse reichen. Nach einer kurzen Einführung, wird der Forschungsstand zu zentralen Begrifflichkeiten und Konzepten aufgeführt. Hier wird der historische und politische Hintergrund von Frühen Hilfen skizziert sowie die besondere Rolle der Kinderkrankenpflege in diesem Setting erläutert. Außerdem wird die Theorie sozialer Welten und Arenen nach Strauss als Analysemittel professioneller Aushandlungsprozesse und Grundlage der Situationsanalyse beschrieben. Die Wahl für die Situationsanalyse nach Clarke, als Weiterentwicklung der Grounded Theory nach Glaser und Strauss, wird im methodologischen Teil begründet. Sie erlaubt es diskursive, historische und interaktive Dimensionen zusammenzuführen. Der empirische Teil gliedert sich in A) Rekonstruktion der Entwicklung Früher Hilfen und der Berufsrolle der FGKiKP und B) Analyse der Handlungspraxis und Positionierung der Fachkräfte im Feld. Abschließend werden die gewonnen Erkenntnisse diskutiert, Implikationen für Praxis, Bildung und Forschung abgeleitet und Limitationen sowie weiterer Forschungsbedarf aufgezeigt.
Das Vorgehen besticht durch den innovativen Zugang, professionstheoretische mit berufssoziologischen Perspektiven zu verbinden und die Situationsanalyse zu nutzen, um die komplexen und oft widersprüchlichen Prozesse der Berufsentwicklung nachzuzeichnen. Anders als vorherige Studien, die häufig entweder auf Familienhebammen oder auf strukturelle Aspekte der Frühen Hilfen fokussierten, wird die Kinderkrankenpflege ins Zentrum gerückt und zeigt, wie diese Berufsgruppe ihre Rolle in einem von Unsicherheit, Konkurrenz und Machtgefällen geprägten Feld aushandelt.
Kinderkrankenpflege in den Frühen Hilfe ist eine Doppelrolle: Einerseits ist sie Expertin für kindliche Gesundheit und Entwicklung, andererseits übernimmt sie eine Brückenfunktion zwischen dem Gesundheitssystem und der Kinder- und Jugendhilfe. Gerade in der Prävention von Kindeswohlgefährdung spielt sie eine essentielle Rolle, da sie durch langfristige, aufsuchende Arbeit frühzeitig Belastungen erkennen und niedrigschwellig unterstützen kann. Eine Herausforderung sind dabei die Arbeitsbedingungen bspw. prekäre Anstellungsverhältnisse mit Befristungen und stark variierende Vergütungen und Handlungsspielräume, welche sie zwingen entweder als „devote Handlangerin“ oder „gestaltende Einzelkämpferin“ zu agieren (Kimmerle 2025, 195).
Besonders aufschlussreich sind die Analysen zur Zusammenarbeit mit anderen Professionen wie Hebammen oder Sozialarbeiter*innen. Die Beziehung zwischen Familienhebammen und FGKiKP ist von einem Spannungsverhältnis zwischen Konkurrenz und Bereicherung geprägt. Während die Zuständigkeiten vordergründig klar erscheinen, kommt es in der Praxis häufig zu Überschneidungen und „Kompetenzgerangel“, weswegen klare Grenzen miteinander ausgehandelt werden müssen. Anders gestaltet es sich mit der Sozialen Arbeit, insb. mit der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH). Hier offenbaren sich unterschiedliche Fallverständnisse: FGKiKP fokussieren die Gesundheit, SPFH eher erzieherische und finanzielle Aspekte. Dies ist auch dem geschuldet, dass SPFH dem Jugendamt unterstellt sind, während FGKiKP das häufig nicht sind. FGKiKP befinden sich in dauerhaften Abgrenzungsprozessen von den Berufsgruppen, die schon länger in den Frühen Hilfen tätig sind. Um ein funktionierendes multiprofessionelles Netzwerk zu etablieren, braucht es Abstimmung und Austausch und ein gemeinsames Vorgehen ohne Konkurrenzdenken, sondern gegenseitiges Ergänzen und Verstehen. In diesen Netzwerken sehen sich FGKiKP aber „[…] oft nicht ernst genommen, nicht gehört oder unsichtbar“ (Kimmerle 2025, 204).
Das Ziel der Publikation, die Situation der FGKiKP im Arbeitsfeld Frühe Hilfen umfassend zu analysieren und daraus Entwicklungsimpulse abzuleiten, wird eindeutig erreicht. Es erfolgt nicht nur eine dichte Beschreibung, sondern auch eine kritische Einordnung der beruflichen Entwicklungsdynamiken. Die Ergebnisse (Kapitel 6) werden zu vielen weiteren Studien und bisherigen Erkenntnissen in Beziehung gesetzt. Für den Bildungskontext besonders interessant ist die Diskussion zur generalistischen Pflegeausbildung (2020), woraus sich die Frage ergibt, ob Kinderkrankenpflege sich zu einem spezifischen Tätigkeitsfeld der Pflegefachberufe entwickelt und welche Konsequenzen dies für FGKiKP hätte.
Die Übersichtlichkeit des Buches wird durch ein klares Kapiteldesign und ausführliche Abkürzungs-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnisse unterstützt. Die grafischen Darstellungen, sowie Anlagen, sind ansprechend gestaltet und tragen zum Verständnis der komplexen Zusammenhänge bei. Auch der schriftliche Teil ist darauf ausgelegt verstanden zu werden, z. B. mit der Metapher des Fotografierens.
Kritisch anzumerken ist, dass die Fülle an theoretischen Konzepten und die komplexe Methodik die Lesbarkeit an manchen Stellen erschweren (Kapitel 3 und 4).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Birte Kimmerle ein wichtiges, gut strukturiertes und theoretisch anspruchsvolles Buch vorgelegt hat, das die Diskussion um die Professionalisierung der Pflege in den Frühen Hilfen bereichert. Es ist lesenswert für Praktiker:innen in und außerhalb den Frühen Hilfen, also Pflegefachpersonen, Hebammen, Sozialpädagog:innen, Netzwerkkoordinator:innen und Verantwortliche in Jugend- und Gesundheitsämtern sowie Berufsverbände und Politik. Darüber hinaus bietet es wertvolle Impulse (Kapitel 7) für die Pflegebildung und Pflegewissenschaft hinsichtlich Professionalisierungs- und Versorgungsforschung. Es gelingt ihr, die Stimme einer bisher oft unsichtbaren Berufsgruppe hörbar zu machen und damit einen Beitrag zur Stärkung dieser im Netzwerk Frühe Hilfen und in ihrer Rolle im Kinderschutz und der Gesundheitsförderung zu leisten.
Eine Rezension von Nadja Körner
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