• Innovationen für ambulante Pflege: HSBI-Forscher rüsten Bielefelder KogniHome mit Sensorik und KI auf

    Die Bielefelder Forschungswohnung „KogniHome“ wurde mit zusätzlichen Sensoren, leistungsfähigerer Software, einer innovativen Eingangstür und einer trainierten KI weiterentwickelt. Zwei Wissenschaftler der HSBI nutzen diese Technologien, um pflegebedürftigen Menschen ein längeres und sicheres Leben in ihrem Zuhause zu ermöglichen.

    SHARLY („Smart Home Agent Really“) erfasst zahlreiche Aktivitäten im Bielefelder KogniHome, etwa das Öffnen des Kühlschranks, den Wasserverbrauch oder das Betreten eines Raums. Trotz der umfassenden Sensorik geht es den Forschenden im Stadtteil Bethel nicht um Überwachung, sondern um die Entwicklung unterstützender Technologien für pflegebedürftige Menschen:   „Wir möchten vielmehr herausfinden, wie mithilfe von Künstlicher Intelligenz und einer vernetzten Wohnumgebung sichergestellt werden kann, das körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen so lang wie möglich selbstständig und sicher in ihren eigenen vier Wänden leben können“, so Prof. Dr. Thorsten Jungeblut.

    Privatsphäre bleibt gewahrt, dennoch wird sichtbar, wie es jemandem geht – gut, mittel oder schlecht

    Der Professor der Hochschule Bielefeld (HSBI) im Bereich Industrial Internet of Things arbeitet daran, pflegenden Angehörigen und Diensten per intelligenter Datenauswertung aus der Ferne Einblick in das Wohlbefinden betreuter Personen zu ermöglichen und frühzeitig Handlungsbedarf zu erkennen.  „Stellen Sie sich vor, es gibt irgendwann einfach eine App, mit der Sie zum Beispiel über ein simples Ampelsystem erfahren, ob alles okay ist bei Ihren hochbetagten Eltern oder ob mittelfristig oder sofort Handlungsbedarf besteht“, skizziert Jungeblut die Perspektive seiner Arbeit. „Das wäre doch praktisch!“

    Zum kritischen Punkt „Big Brother“ haben der Professor und sein Doktorand Justin Baudisch auch gleich einige Lösungen parat: „Bei einem einfachen Bewertungssystem mit den Unterteilungen gut, mittel, schlecht bleibt die Privatsphäre weitgehend gewahrt“, erläutert Baudisch. „Wir arbeiten ja nicht mit Kameras, sondern mit Sensoren, deren Daten vor Ort gesammelt und analysiert werden. Solche Sensoren haben keinen oder nur sehr begrenzten Personenbezug.“ Wenn dann doch mal Daten die geschützte Umgebung verlassen sollen – zum Beispiel, um die Wissenschaft weiterzubringen –, dann werden diese homomorph verschlüsselt, versichert Baudisch. „Das ist ein innovatives Verfahren, bei dem die individuelle inhaltliche Substanz der Daten erhalten bleibt, eine Zuordnung zu konkreten Personen aber unmöglich ist.“

    Günstige Minimalsensorik steigert die Realisierungswahrscheinlichkeit des Systems

    SHARLY ist eine fortschrittliche Softwareumgebung, die Jungeblut und Baudisch kontinuierlich weiterentwickeln. Auf einem Monitor im KogniHome zeigt das System diskret und schematisch an, was in der Wohnung geschieht. Legt sich eine Testperson auf den Badezimmerboden, erscheinen zwei blaue Vierecke auf dem Bildschirm und markieren den simulierten Sturz. Auch ein offenes Badezimmerfenster wird visualisiert. Bleibt die Situation über einen bestimmten Zeitraum unverändert, könnte das System automatisch Alarm auslösen und Rettungskräfte verständigen.

    SHARLYs umfangreiche Datenerfassung hilft nicht nur in Notfällen: Das System sammelt und analysiert eine Vielzahl von Sensordaten, um typische Tagesabläufe zu erkennen. Bei Abweichungen kann es wertvolle Hinweise für Pflegende liefern. Die Auswertung umfasst Daten von Bewegungsmeldern, Lichtschaltern, Türen, Fenstern und intelligenten Haushaltsgeräten wie Kaffeemaschinen, Saugrobotern oder Waagen. Zusätzlich verarbeitet SHARLY Informationen von Smartmetern zu Heizung, Strom und Wasserverbrauch.

    „Ein Vorteil unseres Ansatzes besteht darin, dass Minimalsensoren heute schon Standard sind für viele Gebäudeeinrichter, Bad- und Küchenhersteller“, so Jungeblut. „Das heißt die Technologie ist relativ kostengünstig und so besteht eine gute Chance, dass unser System mittelfristig, zum Beispiel in der ambulanten Pflege, eingesetzt wird.“  Das Team arbeitet bereits mit der Ambulanten Geriatrischen Rehabilitation Bielefeld GmbH an der Integration von Smart-Home-Sensorik in die häusliche Rehabilitation. In Brackwede können Interessierte in den Räumen der PVM GmbH verschiedene im KogniHome genutzte Sensortechnologien besichtigen und testen. Zudem haben Doktorand Baudisch und sein Professor eine Schnittstelle zu einer Pflegemanagement-Software entwickelt und beginnen nun mit ersten Tests.

    Daten werden homomorph verschlüsselt, und dann startet das Training der KI bei yourAI in der HSBI

    Doch braucht das System tatsächlich so viele Daten und warum registriert es selbst, ob der Küchenschrank gerade geöffnet wurde und ob die Kaffeemaschine läuft? „Ganz einfach“, erläutert Justin Baudisch, „nur so kriegen wir raus, welche Verhaltensmuster normal und damit unkritisch sind und welche eine Abweichung bedeuten, die womöglich auf ein Problem hindeuten.“ Damit das zuverlässig klappt, muss die Software allerdings viel lernen und Schritt für Schritt klüger werden. Hier kommt KI ins Spiel: Die Daten aus der vernetzten Wohnung werden, wie erwähnt, zunächst homomorph verschlüsselt und dann in die HSBI übertragen. Dort gibt es ein Rechnernetzwerk namens yourAI mit der Kapazität, große Datenmengen zu verarbeiten und KIs zu trainieren.

    Das Training läuft so ab: Basierend auf aufeinanderfolgenden Ereignissen werden die Aktivitäten in der Wohnung erfasst und Handlungssequenzen gebildet. Diese finden in einer Graphstruktur Abbildung. Nach einer gewissen Zeit, in der immer wieder neue Sequenzen abgebildet wurden, können Abweichungen in der Struktur – also bisher unbekannte Sequenzen oder leichte Abweichungen von bekannten Sequenzen – als Anomalien erkannt werden. Baudisch: „Bei Abweichungen vom gewohnten, in der Vergangenheit gelernten Verhalten – wir sprechen von Anomalie – werden pflegende Angehörige, das Pflegepersonal oder auch ein Rettungsdienst informiert, um, wenn nötig, entsprechende Interventionen einzuleiten.“ Bei einer noch nicht hinreichend trainierten KI wäre falscher Alarm ziemlich wahrscheinlich. Zurzeit ist das Team deshalb unter anderem dabei, der KI den richtigen Umgang mit Trends beizubringen. Dabei geht es zum Beispiel und um die Berücksichtigung von Saisonalitäten wie Wochenenden und Jahreszeiten.

    Arbeit im Kontext von demografischem Wandel und Arbeitskräftemangel im Pflegebereich

    Viele Daten zu sammeln, zu analysieren und mittels KI zu klassifizieren, steigert also die Zuverlässigkeit des Systems. Große Datenmengen bringen aber noch einen weiteren Vorteil, berichtet Prof. Jungeblut: „Die langfristige Messung der Aktivität kann auch die Früherkennung und Diagnose von neurologischen Erkrankungen wie Demenz erleichtern.“ Eine weitere Krankheit, auf die eine Änderung der Aktivität in der Wohnung hindeuten könnte, ist Depression. Oder das System stellt fest, dass der Wasserverbrauch in der Toilette kontinuierlich gesunken ist: ein Indiz dafür, dass eine schleichende Dehydrierung der hilfebedürftigen Person im Gange ist – eine gefährliche Entwicklung, die typisch ist insbesondere für hochbetagte Menschen.

    Selbstbestimmtes Leben zu Hause auch im hohem Alter ist ein wichtiges Ziel des Gesundheitswesens, findet Prof. Jungeblut, und so bilden die sogenannte „Überalterung“ der Gesellschaft bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel im Pflegebereich und inhaltlich wie zeitlich oft überforderten Angehörigen den Hintergrund seiner Arbeit und der seines Doktoranden. Im KogniHome finden sie dafür ideale Voraussetzungen vor. Die Forschungswohnung in Bethel, dem Stadtteil des Bielefelder Bezirks Gadderbaum, war 2014 als gemeinsames Projekt von 14 Partnern entstanden. Acht Millionen Euro ließ es sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung kosten, um eine zukunftsträchtige Musterwohnung entstehen zu lassen, die selbstbestimmtes Wohnen von Menschen mit Beeinträchtigungen mithilfe technischer Assistenzsysteme ermöglichen sollte. Mittlerweile wird das durch und durch vernetzte und mit allerlei technischen Finessen ausgestattete Appartement – darunter neuerdings eine innovative Eingangstür, die von Rettungskräften mit einem von SHARLY gesendeten QR-Codes geöffnet werden kann – von einem Verein betrieben, in dem die wesentlichen Köpfe aus Gesundheit, Wirtschaft und Hochschulen Mitglied sind.

    Insbesondere Letztere haben sich einiges vorgenommen: Um die Datenschutzherausforderungen beispielsweise künftig noch besser in den Griff zu bekommen und an dieser Stelle robust aufgestellt zu sein, möchte HSBI-Professor Jungeblut mittelfristig erreichen, dass die Daten nicht nur vor Ort gesammelt und dann anonymisiert weitergegeben werden, sondern dass auch die KI-Verarbeitung selbst lokal stattfindet. Diese sensornahe KI-basierte Vorverarbeitung in der Wohnung kann aber aufgrund begrenzter Rechenkapazitäten zusätzliche Schritte erforderlich machen. Ein sogenanntes Co-Design der Hardware vor Ort und der KI müsste erfolgen. Jungeblut: „Das versuchen wir gerade zu erreichen, indem wir zunächst Verfahren zur Reduktion der Modellkomplexität beispielsweise durch Quantisierung Approximation anwenden, also eine Vereinfachung, durch die sich der Rechenbedarf reduzieren lässt, ohne dass die Genauigkeit des KI-Modells darunter leidet.“ Es bleibt also spannend im KogniHome, „Big Brother“ allerdings bleibt in dieser Wohnung diskret und ist auch künftig auf die Wahrung der Privatsphäre bedacht.


    Zur Pressemitteilung: https://www.hsbi.de/presse/pressemitteilungen/innovationen-fuer-ambulante-pflege-hsbi-forscher-ruesten-bielefelder-kognihome-mit-sensorik-und-ki-auf

    Foto: Durch Minimalsensorik können exakte Bewegung im KogniHome erkannt, erfasst und dargestellt werden. (H. Hilpmann/HSBI)

  • Qualitätsatlas Pflege: Nach wie vor große regionale Unterschiede bei der Qualität der Versorgung von Menschen in Pflegeheimen

    Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) hat neue Auswertungen zur Versorgung von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern im Online-Portal „Qualitätsatlas Pflege“ veröffentlicht. Im Fokus stehen zehn zentrale Versorgungsthemen, darunter Prophylaxe und Prävention, Arzneimittelversorgung sowie vermeidbare Krankenhausaufenthalte. Anhand der sogenannten QCare-Indikatoren werden kritische Ereignisse in der pflegerischen, ärztlichen und therapeutischen Versorgung systematisch erfasst. Die aktuellen Daten machen teils erhebliche regionale Unterschiede in der Versorgungsqualität deutlich und liefern wichtige Hinweise für gezielte Verbesserungsmaßnahmen.

    Zwei Jahre nach der Erstveröffentlichung hat das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) den „Qualitätsatlas Pflege“ um aktuelle Auswertungen für die Datenjahre 2022 und 2023 erweitert. Die Ergebnisse zeigen: Bei den meisten der zehn untersuchten QCare-Indikatoren sind bislang kaum Verbesserungen erkennbar. Die Auswertungen basieren auf Abrechnungsdaten der Pflege- und Krankenkassen und dienen dazu, die Versorgungsqualität in stationären Pflegeeinrichtungen bis auf Kreisebene sichtbar zu machen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auch auf den Schnittstellen zur medizinischen Versorgung – einem Bereich, zu dem bislang keine systematischen, regelmäßigen Analysen vorlagen.

    Ein anhaltendes bundesweites Problem ist der Auswertung zufolge die Dauerverordnung von Beruhigungs- und Schlafmitteln bei Pflegeheimbewohnenden: So erhielten in Deutschland 7,14 Prozent von ihnen im Jahr 2023 eine Dauerverordnung von Benzodiazepinen, Benzodiazepin-Derivaten und Z-Substanzen. Diese Arzneimittel wirken schlaffördernd, beruhigend und angstlösend – allerdings nur kurzfristig, denn nach vier Wochen sind diese Effekte nicht mehr gegeben. Bei langfristiger Gabe drohen dann Abhängigkeiten, eine erhöhte Sturzgefahr sowie das Auftreten von Angst und Depressionen. „In Deutschland zählen diese Wirkstoffe zu den häufigsten potenziell inadäquat verschriebenen Medikamenten für ältere Menschen“, erklärt Susann Behrendt, Forschungsbereichsleiterin Pflege im WIdO. „Aktuelle Erkenntnisse darüber, wie viele Menschen speziell in Pflegeheimen davon betroffen sind, lagen bisher kaum vor. Mit unserer Auswertung sorgen wir hier für mehr Transparenz. Seit der ersten Veröffentlichung dieser Daten stellen wir nur einen geringen bundesweiten Rückgang fest. So ist der Anteil der Dauerverordnungen von 8,17 Prozent im Jahr 2017 auf 7,33 Prozent im Jahr 2022 und zuletzt auf 7,14 Prozent im Jahr 2023 gesunken.“

    Regional zeigt das Update bei den Verordnungen erneut erhebliche Abweichungen: So war der Verordnungsanteil im Saarland im Jahr 2023 mit 15,88 Prozent doppelt so hoch wie im bundesweiten Schnitt. Auch Nordrhein-Westfalen (12,15 Prozent), Baden-Württemberg (9,07 Prozent) und Rheinland-Pfalz (7,69 Prozent) zählen zum Spitzenfeld bei den problematischen Dauerverordnungen. Im Vergleich zu 2017 gab es auch bei den Kreisdaten dieser Länder nur einen geringen Rückgang. Insgesamt lag der Anteil im Viertel der Kreise Deutschlands mit den besten Ergebnissen bei maximal 4,58 Prozent, während im Viertel der Kreise mit den schlechtesten Ergebnissen mindestens 9,52 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner – also etwa doppelt so viele – betroffen waren. 

    Die risikoreichen Dauerverordnungen kommen der Analyse zufolge im Westen deutlich häufiger vor als im Osten. Den geringsten Wert zeigt Sachsen-Anhalt – hier lag der Verordnungsanteil bei nur 2,90 Prozent. „Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse des Qualitätsatlas Pflege den anhaltenden Optimierungsbedarf bei dieser risikoreichen und nicht zielführenden Dauermedikation“, betont Susann Behrendt. Einzubeziehen wären hierbei idealerweise auch Informationen zu privat rezeptierten Schlaf- und Beruhigungsmitteln. Die Auswertungen des Qualitätsatlas Pflege basieren auf den AOK-Routinedaten und damit ausschließlich auf Verordnungen, bei denen die Kostenerstattung über die Krankenkasse erfolgte. 

    79 Prozent der Pflegeheimbewohnenden mit Diabetes ohne augenärztliche Vorsorge

    Klare Defizite in der Versorgungsqualität zeigen sich auch an der Schnittstelle zur ambulant-ärztlichen Versorgung: So haben bundesweit 79,15 Prozent der an Diabetes erkrankten Pflegeheimbewohnenden im Jahr 2023 keine augenärztliche Vorsorge erhalten. Dabei sehen die medizinischen Leitlinien eine regelmäßige Kontrolle der Augen vor, um frühzeitig Veränderungen der Netzhaut zu erkennen und irreversible Sehstörungen zu vermeiden. Behrendt: „Gerade der Erhalt der Sehkraft ist ein wesentlicher Faktor für Lebensqualität und Selbstständigkeit. Bei Verlust drohen soziale Isolation, psychische Beeinträchtigungen sowie ein erhöhtes Risiko für Verletzungen.“

    In der regionalen Betrachtung zeigt die Auswertung ein leichtes Süd-Nord-Gefälle: So zählte jeweils mehr als ein Drittel aller Kreise in Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Bayern zum auffälligsten Viertel des Regionen-Vergleichs. Hier wiesen jeweils 84,56 Prozent oder mehr der Pflegeheimbewohnenden mit Diabetes keinen Augenarzt-Kontakt im Jahr 2023 auf. Neben deutlich geringeren Anteilswerten in den Stadtstaaten Berlin und Hamburg erreichte oder überschritt demgegenüber in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen kein Kreis diesen Wert, in Nordrhein-Westfalen waren es zwei von 53 Kreisen und in Schleswig-Holstein einer von fünfzehn Kreisen. Behrendt: „Diese kleinräumige Analyse bis auf Kreisebene kann den Verantwortlichen vor Ort und den gesundheitspolitischen Akteuren helfen, gezielt nach den Ursachen für die regionale Unterversorgung zu fahnden. Ein entscheidender Faktor ist hier sicherlich die flächendeckende Versorgung mit Augenärzten.“

    Zeitreihen zeigen konstantes Niveau der Stürze bei Risikomedikation

    Der Qualitätsatlas Pflege betrachtet auch sturzbedingte Krankenhausaufenthalte bei Pflegeheimbewohnenden, die Medikamente erhalten, welche die Wahrscheinlichkeit für Stürze erhöhen (sogenannte FRIDs). Durch die Einnahme von Wirkstoffen wie Antidepressiva, Antipsychotika, Hypnotika/Sedativa oder auch durch Benzodiazepine und Anxiolytika erhöht sich das ohnehin schon hohe Sturzrisiko von betagten, multimorbiden Menschen noch weiter. 

    Der Qualitätsatlas Pflege zeigt, dass im Jahr 2023 mit 16,23 Prozent mehr als jede sechste Person, die im Pflegeheim FRIDs erhielt, sturzbedingt im Krankenhaus versorgt wurde. Auch 2017 belief sich der Anteil der Betroffenen auf 16,09 Prozent und blieb in den sechs Folgejahren nahezu konstant. Die regionale Varianz ist auch bei diesem Qualitätsindikator erheblich und reicht von nur 12,99 Prozent der Pflegeheimbewohnenden in Mecklenburg-Vorpommern bis zu 18,45 Prozent in Rheinland-Pfalz. Das obere Ende der Skala bilden ein Kreis in Rheinland-Pfalz sowie zwei Kreise in Bayern. Hier kamen jeweils mehr als ein Viertel (25,10 Prozent bis 33,54 Prozent) der Pflegeheimbewohnenden mit riskanter Medikation 2023 sturzbedingt ins Krankenhaus. Am unteren Ende der Skala finden sich drei Landkreise aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Hier war nur jeder zehnte Pflegeheimbewohnende betroffen (9,78 Prozent bis 10,06 Prozent). 

    Zehn Indikatoren an den Schnittstellen der Versorgung von Pflegebedürftigen 

    Neben den genannten Indikatoren betrachtet der Qualitätsatlas Pflege noch sieben weitere Themen im regionalen und zeitlichen Vergleich: die Krankenhauseinweisungen von Demenzkranken aufgrund von Flüssigkeitsmangel, vermeidbare Krankenhausaufenthalte am Lebensende, das Auftreten von Dekubitus, die Dauerverordnung von Antipsychotika bei Demenz, die gleichzeitige Verordnung von neun oder mehr Wirkstoffen, den Einsatz von für ältere Menschen ungeeigneter Medikation und die Häufigkeit besonders kurzer Krankenhausaufenthalte von bis zu drei Tagen.

    Die WIdO-Analysen für den Qualitätsatlas Pflege beruhen auf den Abrechnungsdaten der elf AOKs, die rund ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland versichern. Dabei wurden die Daten aus der Kranken- und aus der Pflegeversicherung einbezogen und miteinander verknüpft. Zur Darstellung von räumlichen Verteilungsmustern bei der Versorgungsqualität nutzt das WIdO ein wissenschaftlich entwickeltes Set von Qualitätsindikatoren für die Pflege (QCare Indikatoren). Insgesamt sind in die Auswertung die Daten von rund 350.000 Pflegeheimbewohnenden ab 60 Jahren eingeflossen. Das entspricht knapp der Hälfte aller stationär versorgten Pflegebedürftigen in Deutschland. Im Online-Portal „Qualitätsatlas Pflege“ des WIdO sind die Ergebnisse für die einzelnen Bundesländer und für die rund 400 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland im regionalen Vergleich dargestellt. Die Ergebnisse zu den zehn betrachteten Themen können nun auch als Zeitreihen für die Datenjahre 2017 bis 2023 betrachtet werden.

    Zum Qualitätsatlas Pflege: www.qualitaetsatlas-pflege.de


    Zur Pressemitteilung: https://www.wido.de/news-presse/pressemitteilungen/2025/qualitaetsatlas-pflege/

    Foto: stock.adobe.com - amazing studio

  • Was ist „gute“ Demenzpflege? Verändertes Selbsterleben bei Demenz – Ein Praxisbuch für Pflegende

    Christoph Held

    Hogrefe Verlag, Bern, 3. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2025, 152 Seiten, 28,00 €, ISBN 978-3-45-686249-1

    Der Titel zeigt es schon: Hier hat jemand ein Buch geschrieben, der an Demenz erkrankte Menschen und ihr Erleben in den Vordergrund rückt. Der den Menschen und sein Erleben ernst und wahrnimmt und beschreibt, wo die Krankheit die Wahrnehmung und das Verhalten ändert und prägt und wie dies auf das Umfeld wirkt. Der Autor ist ein Mensch, der die Herausforderung Demenz ganz sicher nicht nur theoretisch kennt: Christoph Held, Facharzt Psychiatrie FMH. Er arbeitete 25 Jahre als geriatrischer Arzt und Alterspsychiater in den Pflegezentren der Stadt Zürich und hat bereits mehrere Bücher zum Thema Demenz veröffentlicht. Letztendlich ist das vorliegende Buch ein interprofessionelles Buch zum Thema Demenz, was es, soviel sei vorausgeschickt, zurecht als Praxishandbuch auszeichnet. Die Coautoren sind erfahrene Fachpersonen aus dem Bereich Medizin und Pflege.

    Das Buch richtet sich vor allem an Pflegende und Angehörige von erkrankten Menschen mit mittelschwerer und schwerer Demenz, ist aber auch für die Ausbildung, Fort- und Weiterbildung von allen Menschen in Gesundheitsberufen, inkl. Sozialdiensten, wichtig und geeignet.

    Was die Neuauflage auszeichnet, ist, dass aktuelle Behandlungsansätze bewährte Grundlagenvermittlung und Erfahrungen im Umgang mit dem Thema, Erleben bei Demenz, ergänzen. Auch wird in dieser dritten Auflage auf die bedeutsam erweiterten neuen Erkenntnisse über Diagnostikmöglichkeiten und Prävention der Alzheimer Erkrankung hingewiesen. Der Autor erhielt für sein Buch „Das demenzgerechte Heim“, zusammen mit Doris Ermini-Fünfschilling, den schweizerischen Alzheimerpreis.

    Im Zusammenhang von der Pflege von Menschen mit fortgeschrittener Demenz wird oft von Stress und Überforderung und fehlender Lebensqualität geredet. Der Autor und seine Co-Autoren kennen eine wirksame Entgegnung: Menschen mit Demenz und ihrer geänderten Ich-Wahrnehmung ist mit Klarheit und Zuwendung zu begegnen. Wir, als Pflege- und Betreuungspersonen, An- und Zugehörige dürfen uns neben der Wahrnehmung des Gegenübers auch mit unserem eigenem Wahrnehmen beschäftigen. Wir können unser Selbsterleben noch kontrollieren und einen Abgleich zwischen Denken, Erfahrung und Handeln darstellen, was von Demenz betroffenen Menschen so nicht mehr gelingt. Dies stellt das Buch gut verstehbar dar und hilft uns, das oft paradoxe Handeln von Menschen mit Demenz besser zu deuten und zu verstehen. Dies führt wiederum zu Stressreduktion und besser gelingender Beziehungsarbeit, die ganz eindeutig zu mehr positivem Selbsterleben der Betroffenen, aber auch ihrer Bezugspersonen führt. 

    „Alles Leben ist Begegnung.“ Dieser bekannte Spruch von Martin Buber, kam mir als Rezensentin bei dem Lesen dieses Buches in den Sinn: Begegnungen mit dem Selbst und dem Anderen zu ermöglichen, als Chance für Lebenszufriedenheit und sinnstiftendes Tun und so die Lebensqualität zu verbessern und auch die Lebens- und Arbeitszufriedenheit auf Seiten der helfenden Personen. Wenn, wie Herr Dr. Held beschreibt, der Mensch mit Demenz oft keine Entscheidungen zu sich selbst mehr treffen kann, ist es entscheidend, dass das Umfeld, dies weiß, um Überforderungen zu vermeiden und dem Betroffenen zu helfen. Indem Bedürfnisse erraten, gedeutet und möglichst erfüllt werden. Sehr inspirierend war hier die Aussage in Kapitel 1.5: „Jeder demenzbetroffene Mensch erlebt seine veränderte Wahrnehmung und fragmentierte Erinnerung nämlich unterschiedlich und verknüpft seine oftmals zerrissenen Gedanken immer wieder neu.“ Hier ist die Herausforderung an die Begleitpersonen „wahre Künstler einer hilfreichen, aber diskreten Unterstützung zu sein.“ 

    Dies kann ich, aus meiner eigenen jahrzehntelangen Erfahrung in der Begleitung und Unterstützung von Menschen mit Demenz, nur bestätigen: Wenn es uns gelingt eine Beziehungsebene zu erreichen, die Vertrauen ermöglicht, ist die Begegnung und der gemeinsame Weg deutlich entspannter umsetzbarer, als wenn feste Muster, Vorgaben oder gar Beschränkungen den Umgang dominieren.

    Hier spricht der Autor davon, dass es besser ist „den Filmriss (hiermit ist das dissoziative Erleben gemeint) zu akzeptieren, ohne ihn ständig zusammenkleben zu wollen.“ (Kapitel 1.6)

    Verändertes Selbsterleben (Angst, Wahn, Halluzinationen, Unruhe) auf der Seite des Menschen mit Demenz benötigt Zuwendung, Begleitung, Schutz und Geborgenheit als Hilfe von der begleitenden Person. Dies ist Arbeit und Aufgabe zugleich für beide Seiten – der Autor schreibt vom mitunter schwierigen Zusammenleben von Bewohnern und Mitarbeitern oder/und pflegenden Angehörigen.

    Das Grundrecht auf Gefühle betrifft hier alle Betroffenen und das Ziel „guter“ Demenzpflege ist die Sicherstellung von guter Lebensqualität, auch durch die Abnahme von Stress und Überforderung.

    Tröstlich ist, dass Dr. Held schildert: „Wir erleben unsere Demenzstationen, aber auch täglich als Orte der Entschleunigung, der Ruhe, der Geborgenheit, der heiteren Geselligkeit und der gegenseitigen Anerkennung.“

    Das kenne ich tatsächlich auch so, aus verschiedenen Arbeitskontexten in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz: Wo die Beziehungsebene funktioniert, sich Menschen begegnen können, in einem vertrauensvollem Miteinander, wo die richtigen Worte und Gesten immer wieder gesucht und gefunden werden, wo jeder Moment neu sein darf und neu interpretiert werden kann, im Bewusstsein einer verlässlichen, respektvollen Herangehensweise, umsichtig, in Gewissheit, dass der Mensch mit Demenz sein eigenes Erleben hat, aber die Fürsorge und Rückkopplung seines Umfelds braucht bei fortgeschrittenen Problemen, Alltagsanforderungen zu bewältigen – da ist nicht alles einfach, aber vieles möglich und das zählt. Dass der Mensch, dem Menschen ein Mensch ist, ein Du, dass die andere Person sieht, in ihrem Selbsterleben, wie es nun gerade ist.

    Kapitel 3 widmet sich der Neuropathologie und Diagnostik der Demenz, wobei hervorgehoben wird, dass Demenz kein einheitliches Krankheitsbild ist. Wichtig ist, dass in diesem Kapitel darauf hingewiesen wird, dass es auch für Pflegefachkräfte wichtig ist, die verschiedenen Demenzformen zu kennen, um in der Risikoerfassung und der Planung der Pflege und Betreuung auf die spezifischen Symptome einer bestimmten Demenzerkrankung eingehen zu können.

    Kapitel 4 hilft, den Begriff des Selbst- Erlebens zu verstehen, mehr über Ich-Identität, deren Bedeutung und „Ich-Störungen“ zu erfahren. Wichtig: Hier werden konkrete Alltagstipps zum Umgang gegeben, so dass das Verstehen der „Störung“ sich auch in der praktischen Begleitung darstellen lässt.

    Dies wird in Kapitel 5-13 weiter konkretisiert zu den Themen Waschen und Ankleiden, Kommunikation, Essen und Trinken, Ausscheidung, Sich-Bewegen, alltäglichen Ritualen im Zusammenhang mit Selbsterleben, herausforderndem und schwierigem Verhalten, Sterben, Angehörigengesprächen und Lebensraumgestaltung.

    Ein Ausblick in die Zukunft ist der Abschluss der dritten Ausgabe dieses Praxishandbuches: „Dennoch wird bei demenzkranken Menschen eine simulierte Präsenz oder gar Scheinwelt niemals die menschlich-pflegerische Zuwendung ersetzen können, die auf die existenziellen Schwierigkeiten und Nöte der Betroffenen flexibel und empathisch reagieren kann.“

    Fazit

    Dieses Buch gehört dick gedruckt in die Zukunftsplanung unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Es setzt ein Zeichen für die Bedeutung und den Rahmen institutioneller Pflege und Betreuung von an Demenz erkrankten Menschen. Dieses Buch bezieht Angehörige und das Thema Abschied und Sterben mit ein und lässt Diskussionen zu. Es gibt nicht nur einen Weg. Es ist wichtig im multiprofessionellen Team zu sehen, an welchem Punkt der Erkrankung der Mensch mit Demenz steht und was dies mit seinem (Selbst-)Erleben macht. Ebenso wie das Umfeld ihn hierbei begleiten und unterstützen kann.

    Unsicherheit, Stress, Selbstzweifel, Dissoziation, Angst und unter Umständen Abwehr und Anspannung können die Begleitung und Betreuung, ja das Miteinander, zu einer Herausforderung machen, was in diesem Buch durchaus benannt wird.

    Lebensqualität zu schaffen, bis zuletzt, ist eine Aufgabe der betreuenden Teams. Dies braucht entsprechendes Wissen und ein Milieu, dass die Haltung fördert, dass „gute“ Demenzpflege, Wissen und Zeit braucht, das Selbsterleben des Menschen mit Demenz zu erkennen und in Ruhe zu begleiten. Dann wird die beschriebene mögliche Herausforderung für beide Seiten machbar und sinnstiftend.

    Lebensfreude trotz(t) Demenz.

    Ein sehr gelungenes, gut lesbares Praxisbuch – nicht nur für Pflegende – liegt nun in seiner dritten Auflage vor!

    Eine Rezension von Renate Zeisberger
    Pflegefachperson, Palliativ and Geriatric nurse, Pflegedienstleitung und Praxisanleitung, aktuell Qualitätsmanagement stationäre Langzeitpflege